Ich war nie ein Familienmensch denn meine Eltern liessen sich in 1952 scheiden und ich pendelte danach so als unerwünschtes fünftes Kind und fünftes Rad am Wagen immer zwischen den zwei geschiedenen Eltern hin und her. Kein Wunder dass ich mich nach Abschluss der Lehre völlig von zuhause absetzte und zwei Jahre später Deutschland ganz verlies. In kurzer Hose und fern der Heimat lebte ich die meiste Zeit meines Lebens in Australien, aber auch in mehr als einem Dutzend anderer Länder. Jetzt bin ich schon seit über zwanzig Jahren im Ruhestand und wohne an der schönen Südküste von Neusüdwales in Australien. Da habe ich viel Zeit zum Nachdenken und auch zum Zurückdenken und mit der Hilfe meines jetzt schon neunzig Jahre alten Bruders Karl-Heinz, der auch noch so langsam und leise in Kiel in Deutschland vor sich hinlebt, habe ich diese Chronologie der schon so lange vergessenen Familie zusammengebastelt.
Vater und Mutter heirateten am 18. Oktober 1932 in Magdeburg-Buckau (jetzt M-Südost). Dort wurden Karl-Heinz 1932 und Margrit 1934 geboren. Opa und Oma wohnten in Buckau, Am Wolfswerder # 7. Opa war ein gelernter Bäcker aber nach der Wirtschaftskrise in den zwanziger Jahren wurde er Eisenbahner und arbeitete auf einem Stellwerk in Fermersleben.
Zu Kriegsbeginn zog die Familie von Magdeburg nach Braunschweig. Dort wurden Bärbel und Monika geboren. Vati hatte dort beim Braunschweiger VW-Werk Arbeit gefunden. Karl-Heinz wurde in 1939 in der Braunschweiger Comenius-Schule eingeschult. Wir wohnten dort in der Uhlandstraße # 28.
Als wir noch in der Uhlandstraße wohnten, wurde Vati zum Militär eingezogen. Er machte gleich den Frankreich-Feldzug mit und wurde auch gleich schwer verwundet. Wie er es einmal Karl-Heinz erzählt hatte, war er Kradmelder gewesen und wurde bei einem Einsatz von Marokkanern (die auf Bäumen saßen) überfallen. Seine Verletzungen waren schwer: die ganze linke Seite, vor allem der Arm und auch das Bein, waren gebrochen. Das trug er ja sein späteres Leben mit sich herum. Er kam ins Reservelazarett "Zu den Barmherzigen Brüdern" in Trier und Mutter und Karl-Heinz (vielleicht war auch Margrit dabei) wohnten eine zeitlang in Trier, weil Mutter die Besuchsgenehmigung hatte. Tagsüber waren sie zusammen im Lazarett und nachts wohnten sie in so einer dunklen Bude.
Später, etwa in 1941, zogen wir nach Magdeburg zurück, in die Alte-Neustadt, und wohnten dort in der Peter-Paul-Straße, um in der Nähe der Großeltern zu sein. Dort ging Karl-Heinz in die Mittelschule (1942 oder 1943) und gleich wieder ab weil er im Zuge der Kinderlandverschickung durch die Bombung von Magdeburg zu Tante Elfriede ging die auf einem kleinen Bauernhof in Thüritz bei Salzwedel wohnte. Als gleich nach Kriegsende Vater mit einem Jeep vor der Tür stand, um ihn wieder abzuholen, wollte er gar nicht weg und auch heute noch ist diese Zeit die schönste Erinnerung an seine Kindheit! Tante Elfriede Zander war die Schwester von Omas Schwiegersohn (Heiligenfelde / Mann von Tante Grete, Vaters Schwester). Unsere Magdeburger Wohnung wurde dann ein totales Opfer der Bomben und Karl-Heinz verlor sein heißgeliebtes Klavier. Mutti wurde mit Margrit, Bärbel und Monika zwangsevakuiert nach Bittkau an der Elbe. Erst in 1945 kam die Familie wieder in Stendal zusammen.
In Stendal wohnten wir zuerst in der Weberstraße wo 1945 Peter geboren wurde, und danach in einem gekauften Haus in der Parkstraße. Das Haus (Villa??!!) in der Parkstraße war ein Mischbau, darin befand sich früher ein Bierverlag mit Eisanlage (Stangeneis) und Vater fabrizierte dort auch weiterhin Eis. Dazu kam noch ein Grundstück (mehr Garten als Grundstück) am Haferbreiter Weg, wo eine ehemalige Arbeitsdienstbaracke stand und wo Vaters Betrieb auch seine Betriebsfeste feierte. Auch ein Grundstück in der Innenstadt, in der Petrikirchstraße, hatte Vater gekauft und dort eine Schweinemästerei eingerichtet.
Der Heinz Rühmann soll ja mein Patenonkel in Stendal gewesen sein. Ob sich daran allerdings jemals Heinz Rühmann erinnert haben könnte, das weiß man nicht. Man darf ja nicht die damalige, unruhige Zeit vergessen - gleich nach dem Krieg!
Heinz Rühmann gab damals in Stendal ein Gastspiel. Rühmann und seine Frau, Herta Feiler, kampierten bei uns ja mit seinem ganzen Tournee-Stab (Werner Fütterer, Alexa von Poremski, Bruni Löbel) und durch seinen Inspizienten, mit dem wir noch länger in Verbindung standen, bekamen wir aus Berlin einen Tonfilmprojektor (DeBrie) und er versorgte uns danach laufend mit "Leih"-tonfilmen, 16-mm, (Zarah Leander etc. pp). Uns ging es ja damals den Umständen entsprechend recht gut. Wir hatten trotz der schlechten Zeiten keinen Mangel. Vater hatte ja die Ver- und Besorgung der russischen Kasinos unter seinen Fittichen, was ihm ja später auch zum Verhängnis wurde und wir nach Berlin türmen mußten.
Rühmann und sein Ensemble tingelten damals praktisch fürs "tägliche Brot" durch die Provinz und waren sicher froh, irgendwo einen Unterschlupf gefunden zu haben. Bei uns war damals ein "ziemliches Leben in der Bude", denn die waren praktisch bei uns zuhause. Das Theater in Stendal lag ja fast um die Ecke.
Wir wohnten in der Weberstraße # 4 in einem Einzelhaus, das vorher wohl irgendwie zur Stadtgärtnerei oder so ähnlich gehörte. Für damalige Verhältnisse recht komfortabel. Schön war z.B. der lange Gang vom Platz (Namen weiß ich nicht mehr) zum Haus; vor dem Haus war ein großer schattiger Platz mit großen Obstbäumen, wo wir Kinder uns aufhalten konnten (Karl-Heinz las dort sehr viel, denn die Stadtbücherei lag auf dem Platz vor der Tür) und durch einen niedrigen Zaun und eine kleine Tür getrennt war der "Betriebshof", wo aber praktisch Ruhe herrschte. Wir waren dort ganz allein unter uns.
Etwas später zogen wir in die Parkstraße # 15 in eine "Villa" (so nannte man das damals). Das Haus kaufte Vater von einem "Geschäftsfreund" (? Teppichhändler ??), der aus der Sovietischen Besatzungszone abhauen wollte (wie Viele damals und wir später auch) und wohl nach Hannover wollte. Aber Vater wollte nicht mit. Wäre wohl besser gewesen und man hätte manchen späteren Ärger vermieden.
Später dann, als die Situation für Vater als "Kalfaktor" für die russischen Kasinos wohl immer unangenehmer wurde, machten wir uns (d.h. Vater, seine russische Dolmetscherin und Karl-Heinz) bei Nacht und Nebel auf nach Berlin. Karl-Heinz durfte (er hatte ja schon seinen Führerschein im April 1948 machen dürfen) unseren alten Adler bis nach Potsdam fahren. Dort übernahm Vater das Steuer und wir donnerten unter Maschinengewehrsalben der Russen ohne Halt (denn es war dort eine Kontrolle zwischen Ost und West) über die sogenannte Friedensbrücke, später in James-Bond-Filmen auch als Agentenaustausch - Brücke als Kulisse verwendet, nach Westberlin (Grunewald/Zehlendorf).
Einige Zeit später holten wir dann Mutter und die anderen, kleineren Kindern nach. Karl-Heinz ist noch ein- oder zweimal mit einem Bekannten schwarz über die damalige Zonengrenze nach Magdeburg zur Oma gegangen, um ein paar Sachen zu holen. Sie wurden beim letzten Mal in Hötensleben (einem Braunkohlentagebau) von den Vopos geschnappt und sind dann aus deren Gewahrsam getürmt und wieder in Berlin gelandet. Dabei hat sich Karl-Heinz noch mächtig seinen Fuß verstaucht.
Durch oder über diesen Bekannten wurde Vater auch wieder zurück nach Stendal gelockt und war dann für längere Zeit in Uchtspringe (so hieß das wohl) in einem Landeskrankenhaus stationiert (festgehalten), denn er war ja aufgrund seiner Kriegsverletzungen hochgradig morphiumsüchtig geworden.
Danach kam die Berliner Blockade und in dieser Zeit wurden wir (d.h. Mutter und die Kinder) mit einem Kohlenflugzeug (Dakota) der Engländer nach Hannover geflogen. Von da aus ging es dann nach Braunschweig d.h. erst nach Helmstedt, weil wohl Voraussetzung war, daß man im Westen Verwandte hatte. Und in Helmstedt wohnte Muttis Tante.
Von da aus ging's nach Braunschweig und wir wohnten dort am Ende des Madamenweges in einem sehr einfachen Schrebergarten. (Köhler hieß der Besitzer; er wohnte in der Nähe vom alten Haupt-/Güterbahnhof; in seiner Wohnung lebte der Karl-Heinz für eine Weile). Das Wohnen in der kleinen Gartenlaube für eine Familie mit fünf Kindern war schon eine Qual und alles andere als bequem. Kein Licht, kein fließendes Wasser und ganz weit draußen.
Es war eine richtige "Blechlaube", denn der Gartenpächter hatte diese total mit blanken Alublech ausgekleidete (auch der Anbau, in dem wir z.T. schliefen). In den heißen Sommermonaten lief das Kondenswasser einfach so die Wände runter. Dieses Blech isolierte ja fast völlig und der Innenraum war dadurch schwitzig. Und im Winter waren die Wände vereist. Das Klo war ein tiefes Loch in einem kleinen Häuschen (ohne Herz in der Tür) am Ende des Gartens, eiskalt im Winter und voller Fliegen im Sommer. Es war "abenteuerlich" da zu wohnen. Und erst wenn es regnete! So ungefähr mußte es in Rußland bei den Landsern auf der sogenannten Rollbahn ausgesehen haben. Alles war dreckig, schlammig und rutschig. Der Weg von der Straße zum Garten war ja auch ziemlich lang.
Der Heinz Rühmann hatte uns dort auch besucht. Ihm ging es in der Zwischenzeit schon wieder ganz gut, ganz im Gegenteil zu uns denn Vati hatte keinen Verdienst - er war wohl auch dazu nicht (mehr) in der Lage. Später irgendwann zogen wir dann zum Cyriaksring # 47.
Karl-Heinz fotografierte diese schwarz-weissen Bilder in 1948. Er war damals bei einem "Wander"-Fotografen in Berlin-Lankwitz als Hilfskraft tätig (wo bekam der zu der Zeit der fast totalen Ausbombung von Berlin seine Aufträge her?). In 1949 began Karl-Heinz seine Lehre als Textilkaufmann bei Dietz in der Sonnenstraße # 13 in Braunschweig und der Cyriaksring ist für ihn das Synonym für das Auseinanderbrechen der Familie geworden. Vater war dann nochmal zur Entziehung nach Königslutter, wo er ja auch seine spätere zweite Frau kennenlernte. Irgendwann in der Zeit bekam Vati die GRAUHOF-Vertretung. Er bekam einen GUTBROD-Kleinlaster mit GRAUHOF-Reklame und fuhr damit z.B. auf Sportplätze, um zu verkaufen. Nur eine Frei-Haus-Lieferung war ihm wohl zu aufwendig und unbequem.
Die Eltern liessen sich in 1952 scheiden und Vati wohnte mit seiner zweiten Frau Ria am Cyriaksring und Mutti mit ihrem zweiten Mann Erich ("Onkel Erich") am Altewiekring # 23.
Ich wurde 1951 bei der Volksschule in der Sophienstraße in Braunschweig eingeschult. Später, als ich zur Mutti auf den Altewiekring ging, war ich auf der Volksschule in der Heinrichstraße. In 1960 fand ich eine Lehrstelle als Versicherungskaufmann bei der Hamburg-Bremer Feuer-Versicherung in der Münzstraße unter dem Bezirksleiter, Herrn Manfred Weber. 1963, mit dem Kaufmannsgehilfenbrief in der Tasche, wollte ich von zuhause weg und ging "auf Montage" als Baukaufmann bei der Tiefbaufirma Sager & Woerner die im Norden von Deutschland Autobahnen bauten. Walsrode, Verden an der Aller und mehrere andere Baustellen. Dann kam die Wehrerfassung von der ich gar nichts wissen wollte. Kurzentschlossen beworb ich mich als Auswanderer bei der kanadischen und australischen Botschaft. Beide sagten ja und die Australier bezahlten sogar die Überfahrt!
Karl-Heinz beendete seine 2-1/2jährige Lehre 1952 und hatte sich vorher schon volljährig schreiben lassen und wohnte allein in einer kalten Bude auf dem Sackring. Aber er wollte weg von Zuhause! Er war dann Verkäufer bei Karstadt, von wo er 1955 nach Kiel versetzt wurde und Substitut war. 1956 hat er in Kiel dann geheiratet und zog später (1959) mit Frau und einem Kind (Dagmar wurde März 1959 geboren) nach München.
Karl-Heinz wohnte zwischen 1962 und 1969 in Konstanz wo er bei HERTIE als Abteilungsleiter für Kleiderstoffe arbeitete. Danach ging er in der gleichen Position zu dem Spezialstoff- und Einrichtungshaus Fa. Kausch nach Freiburg. Dann erhielt er aber einen gutdotierten Posten als Geschäftsleiter bei QUELLE und zog nach Marburg/Lahn wo er bis zum Ende der 70er Jahre blieb.
Er wollte dann in ein Eigenem investieren und übernahm nach etwas längerem Suchen ein SPAR - Lebensmittel - Geschäft in Tornesch bei Elmshorn. Das war aber ein Schuss in den Ofen und er gab es nach einem Jahr wieder auf. Man hatte ihn bei der SPAR in Hamburg bezüglich der Standortanalyse falsch beraten, und durch Konkurrenz konnten die Umsatzerwartungen nicht erreicht werden. Jetzt wohnt er mit seiner Frau Sonja in Kiel in der Feldstraße und verbessert seine Rente beim Hotel Erkenhof. (Seine Frau starb in 2004 und arbeiten tut er auch nicht mehr) Von den zwei Schwestern, Bärbel wohnte damals in Berlin-Charlottenburg und Monika in Hemmingen am Rande von Hannover.
Wie schon erwähnt wanderte wanderte ich in 1965 nach Australien aus. ich verbrachte dort meine zwei Einwanderer-"Pflichtjahre" und arbeitete als Bankangestellter für die Australia & New Zealand Bank in Canberra. Weihnachten 1967 kam ich wieder nach Deutschland. Ich fing bei der Banco Germanico de la America del Sud (Deutsch-Südamerikanische Bank) in Hamburg an die mir versprochen hatten mich nach Südamerika zu schicken. Daraus wurde aber nichts und so fuhr ich nach Braunschweig zurück und arbeitete in der Übersee-Abteilung der Braunschweigischen Landesbank und später als Devisenhändler bei der First National City Bank in Frankfurt um mein "tägliches Brot" zu verdienen.
Aber Deutschland gefiel mir nicht mehr und im nächsten Herbst flog ich nach Südwest-Afrika, dem früheren deutschen Schutzgebiet, wo ich für eine Weile in Lüderitz arbeitete und dann mit dem Schiff von Kapstadt nach Australien zurückfuhr. Von dort flog ich Ende 1969 nach Neu-Guinea und lebte für mehrere Jahre auf den Südsee-Inseln. Nach Neu-Guinea kam Birma, Iran, wieder Neu-Guinea, Solomon Islands, Western Samoa, Malaysien und Singapur, Australien, dann wieder Neu-Guinea, zurück nach Australien und dann von 1982 bis 1985 Saudi-Arabien und Griechenland.
In 1985 war ich dann wieder da wo ich zwanzig Jahre früher in Australien angefangen hatte: in der Regierungshauptstadt Canberra. Nachdem ich zuerst PICK-Software für ein großes Versandhaus schrieb und danach die Finanzen eines Unternehmen sanierte, machte ich mich dann in meiner eigenen Praxis selbstständig. Journey's End.
Von meiner australischen Seite aus wohl nur noch ich und Karl-Heinz mit dem ich eine sehr gelegentliche Email-Verbindung habe. Der Vater starb in 1984. Da ich damals in Griechenland wohnte und arbeitete war es mir möglich ihn noch vor seinem Tod zu besuchen und dann noch einmal zurückzufliegen zu seiner Beerdigung. Mein Stiefvater ("Onkel Erich") starb irgendwann in the frühen 90er Jahren und meine Mutter in 1999 und meine Stiefmutter irgendwann nach der Jahrhundertwende. Von meinen drei Schwestern Margrit, Bärbel und Monika weiß ich dass die zwei ersten schon vor langem gestorben sind und von der Dritten weiß ich überhaupt nichts mehr seitdem ich sie zuletzt in 1993 sah. Außerdem habe ich noch eine Stiefschwester und einen Stiefbruder mit denen ich allerdings auch keine Verbindung habe. Es ist also alles ziemlich beschissen und zerrissen. Kein Wunder dass ich nie ein Familienmensch geworden bin!