Monday, January 18, 2021

Seitdem ich Rentner bin, da hab' ich keine Zeit

 

Aber noch genug Zeit um von den Braunschweiger Originalen zu lesen. Was sind aber überhaupt "Originale"? Die Harfen-Agnes war ein Original, und so war der Rechen-August, der Deutsche Hermann und der Teeonkel. Und natürlich Teddy Wiener, der "älteste Teenager Deutschlands", wie er sich selber nannte, der musizierend durch die Braunschweiger Lokale zog oder bei seinem Freund Guido Schmidt aufspielte ("Seitdem wir Rentner sind ...")

Es wurde sogar ein Buch über sie geschrieben welches man auf ebay kaufen kann. Allerdings sind die Portokosten nach Australien zu hoch und somit genügen mir die Erzählungen die ich auf der Internet fand:

 

Eine recht umfassende Biografie über die Braunschweiger Originale hat Günter K. P. Starke 1987 geschrieben. "Mensch, sei helle" heißt das Büchlein aus dem Johann-Heinrich-Meyer-Verlag.

 

Nehmen wir zunächst einmal Harfen-Agnes, die es inzwischen ja schon zu besonderen Ehren als Figur in einem eigenen Stück oder in den Eitner/Schanz-Stücken gebracht hat. Tragischer geht es kaum noch in einem Leben zu als es die Agnes Adolphine Agathe Schosnoski (24.1.1866 – 2.9.1939) durchlitten hat. Ihre Kindheit in der Erziehungsanstalt von Bevern wurde durch eine Dienstbotenausbildung abgelöst, die sie vorzeitig abbrach. Durch die Straßen und Kneipen Braunschweigs zog sie dann zunächst noch mit ihrem Vater, nach dessen Tod allein oder auch mit einem Gefährten. Ihre Lieder, teilweise selbst gedichtet, begleitete sie auf ihrer Gitarre, die sie mit bunten Bändern versehen hatte. Ihr Vortrag erfolgte in der Braunschweiger Mundart, das bekannteste Couplet dürfte das vom Schuster geworden sein: "Mensch, sei helle, auch wenn es duster ist (Mensch saa helle, un wenn’s auch duster is)". Während ihrer Touren erlitt sie gelegentlich epileptische Anfälle, was sie dem zusätzlichen Spott der Gassenjungen aussetzte. Meine Großmutter erzählte mir einst die Geschichte, dass ihr jemand einen "Pferdeapfel" ins Gesicht warf, der unglücklicherweise teilweise im aufgerissenen Mund landete und von ihr angeblich so kommentiert wurde: "So, dort bleibt er, bis die Polizei kommt". Naja, das im Dialekt und unter Sprachschwierigkeiten ...

Rechen-August wurde August Tischer genannt (8.8.1882 – 13.6.1928). August bewies seine einseitige Begabung schon im Kindesalter und war in der Lage, komplizierte Rechengänge innerhalb kürzester Zeit im Kopf zu lösen. Auch er war in den Braunschweiger Lokalen unterwegs, wo er sich seinen Lebensunterhalt verdiente. Gegen entsprechende Bezahlung löste er die Aufgaben der Gäste, wobei sein Auftritt fast schon professionell wirkte. Er trug einen schwarzen Gehrock mit weißem Binder, eine weiße Chrysantheme im Knopfloch und einen zerbeulten Zylinder. Während er die Aufgabe löste, tippte er sich mit dem Finger an die Stirn. Oft wurde er von Studenten herausgefordert, die das Ergebnis mittels Rechenschieber und anderer Hilfsmittel kontrollierten.

Tee-Onkel, auch 'Kühner mit dem Pappkarton', war Alfred Kühner (30.3.1872 – 10.6.1945), der Sohn eines Zigarrenfabrikanten und ein gescheiterter Drogist. Er lief als Straßenhändler stets mit einem Karton in der Hand umher und verkaufte daraus Schuhcreme und Seife, oft aber auch irgendwelche getrockneten Kräuter, die angeblich für Teeaufgüsse geeignet waren. 1943 kam er ins Altersheim der Neuerkeröder Anstalten.

Von allen tragischen Figuren scheint aber der "Deutsche Hermann" das schlimmste Schicksal erlebt zu haben, das ihn zu dem machte, was ihn schließlich zum "Original" werden ließ. Julius Skasa (21.4.1852 – 16.2.1927) war Teilnehmer des Krieges 1870/71 und wurde schließlich zum Feldwebel befördert. Seine Entlassung aus dem Militär erfolgte unehrenhaft, man warf ihm den Tod eines Rekruten beim Schwimmunterricht vor. Feldwebel Skasa soll den über Herzschmerzen klagenden Mann ins Wasser geschubst haben, der dabei ertrank. In den folgenden Jahren sah man Skasa, der dieses Erlebnis nie überwinden konnte, als Scherenschleifer durch Braunschweig ziehen. Irgendwann trug er eine Uniformjacke und -mütze, dazu ein Koppel, alles irgendwelche abgelegten und nicht zuzuordnende Teile. Fand er etwas Blinkendes auf der Straße, so heftete er sich das an die Jacke, egal, ob Münze, Kronkorken oder auch Orden. Gab man ihm ein paar Groschen, so grüßte er militärisch und schlug die Hacken zusammen.

Diese vier Menschen werden heute gern als "historische Originale" bezeichnet. Dabei handelte es sich doch bei allen vier um bedauernswerte Mitbürger, denen das Leben nicht sonderlich gut mitgespielt hatte. Mit ihren begrenzten Möglichkeiten schlugen sie sich mehr schlecht als recht durch, und zu lachen war ihnen wohl kaum dabei. Gelacht haben die anderen über sie, aber auch über den Straßenfeger Gustav Karlanke von der Wallstraße und seine Art, ebenfalls in Mundart, die Leute zum Schmunzeln brachte. Der Titel "Cammerfeger" haftete ihm als Ehrentitel an, und wenn er zur Arbeit ging, hatte er seinen Besen wie ein Gewehr geschultert. Oder der Diener Andreas Stanze, über den Günther Starke in seinem Buch Braunschweiger Kinder ebenso humorig berichtet wie über Heinrich Noppe, ein echtes "Schlitzohr" oder Fritz Papendick, "Fritze", der sich stets beim Hoftheater am Hagenmarkt herumtrieb, oder Felix Balekowski, der ebenfalls in Uniformteilen gekleidet stadtbekannt war.

Ein Original war mit Sicherheit auch der Aufseher im Schlosspark Johann Julius Pieper, der aufgrund seines roten Uniformkragens nur "Pieper mit dem roten Kragen" genannt wurde. Er war der Schrecken der Kinder, die im Schlosspark tobten, den sie allein nicht betreten durften. Der Spottvers der Kinder: "Pieper mit dem roten Kragen wollte alle Kinder schlagen ..." Und ein leidenschaftlicher "Kippensammler" war der Parkaufseher. Herzog Wilhelm (gestorben 1884) warf nämlich seine teuren Zigarrenreste immer am Parkeingang weg – und Pieper sammelte sie auf, um sie genüsslich zu Ende zu rauchen.

Warum allerdings heute kaum auch noch Karl Christian Julius Oskar Fischer kennt, ist nicht zu erklären. Der stets nur "Oskar" gerufene Schauspieler am Braunschweiger Hoftheater (30.8.1840 – 7.4.1896) kam 1862 nach Braunschweig und wurde als Komiker mit parodistischem Talent rasch sehr bekannt und beliebt, auch durch seine plattdeutschen Couplets. In seine Texte flocht er auf der Bühne gern ein paar witzige, lokale Anspielungen ein und verärgerte damit auch einmal Herzog Wilhelm. Sein Grab auf dem Hauptfriedhof schmückt eine Porträtbüste von W. Habich. Überliefert von ihm wurden Späße wie beim Betreten des Schreibwaren-geschäftes Störig am Kohlmarkt: "Stör ich? Dann komm ich später wieder." Einem Kritiker mit dem Namen Schade heftete er nach einem Verriss einen Zettel auf den Rücken: "Durch Schaden wird man klug".

Man sollte sie vor dem Vergessen bewahren denn sie gehören zur Historie der Stadt.