Eine alte Freundin aus meiner Heimatstadt Braunschweig schickte mir Bilder vom Cyriaksring wo ich in den 50er Jahren aufwuchs. Die Etagenwohnung am Cyriaksring 47 war dem Arbeitsamt gegenüber.
Zu meiner Zeit war damals rechts neben dem Arbeitsamt eine Bude die Obst verkaufte und ein Rollerverleih (Rollerverleih? ja, damals waren Tretroller mit aufgepumpten Gummireifen die neueste Masche; natürlich konnte es sich keiner erlauben so etwas zu kaufen aber für einen Groschen pro Stunde mieten war schon möglich!)
Wenn man dem Arbeitsamt gegenüber und auf einer Straße aufgewachsen ist die den Namen eines katholischen Heiligen trägt der später enthauptet wurde, dann muss man wohl schon sein ganzes Leben lang vorbelastet sein.
Von der Etagenwohnung selbst habe ich leider kein Bild - habe ich aber zehn Jahre später gefunden: siehe "Elf Quadratmeter pro Person" - aber das Arbeitsamt ist auch heute noch da (einschließlich der Verkehrsampeln die es damals noch nicht gab). Wie auch die eisernen Laternen an den Seiten der Eingangstreppe. Diese Laternen waren für die Jungen in der Nachbarschaft eine Art Mutprobe denn wenn man sie anfasste bekam man einen elektrischen Schock. Der Mutigste war derjenige der festhielt und den Schock so lange wie möglich aushalten konnte.
Später zogen wir ein paar Häuser weiter in die Nummer 40.
Wir wohnten auf der Parterre, rechts von der gelben Tür die Nummer 40 anzeigt. Ich erinnere mich noch daran daß damals die Balkone eingeglast waren. Ansonsten hat sich wenig verändert. Selbst der Hinterhof sieht noch so wie früher aus.
Als diese fünfziger Jahre begannen war ich fünf Jahre alt; als sie endeten also fünfzehn. Da kann man sich gut erinnern und erstaunlich viele der Eindrücke sind positiv, bleiben es auch, wenn man den bekannten Betrug des Gedächtnisses abzieht, das lange Zurückliegendes immer positiver darstellt als es wirklich war.
Der beherrschende Eindruck: daß es nur mehr aufwärts gehen könnte, daß alles besser werden müsste, daß man nur anpacken sollte, daß es nur auf Einsatz und Tüchtigkeit ankäme. Der Krieg und das angeblich "Tausendjährige Reich", das ihn auslöste, war eben fünf Jahre vorbei und die graue Nachkriegswelt bekam langsam wieder Farbe.
Aber nicht für meinen Vater der als Kriegsverletzter zurückgekommen war. Er saß im farblosen Morgenrock im eingeglasten Balkon und wartete auf den Geldbriefträger der ihm seine monatliche Rente brachte. Dem gab er dann 50 Pfennig Trinkgeld und der Rest ging gleich zum Bäcker und zum Lebensmittelgeschäft wo wir im vorherigen Monat auf Pump eingekauft hatten. Wenn er Glück hatte, blieben ein paar Mark übrig für ein Päckchen HB und eine Pulle "Wolters oder Wolters nicht".
Der Krieg war vorbei aber keiner wollte darüber sprechen, und über seine Ursachen erst recht nicht. Das war der Fluch der fünfziger Jahre. Die berühmten deutschen Tugenden boomten, aber kaum einer wagte es, die wichtigen Fragen zu stellen. Zum Beispiel die, wo denn die Täter geblieben waren? Nach dem hemmungslosen, kollektiven politischen Rausch der Nazizeit Rückzug in eine kleine, erinnerungslose, bürgerliche Welt. Es war eng und es fehlte an frischer Luft zum Atmen.
Bundeskanzler Konrad Adenauer, 1949 gewählt, war die politische Leitfigur der 50er Jahre. Er legte für West-Deutschland die Marschrichtung fest, immer den Blick in den Westen. Auf dem Plan stand die Wiedergutmachung, aber auch die Wiederbewaffnung.
Die Soziale Marktwirtschaft setzte in Verbindung mit der Währungsreform und dem Marshallplan Kräfte für einen wirtschaftlichen Wiederaufstieg frei, der schon Mitte der 50er Jahre als "Wirtschaftswunder" bezeichnet wurde.
Finanzminister Ludwig Erhard wurde zur zweiten politischen Symbolfigur dieser Zeit. Im Osten Deutschlands regierte die SED unter Generalsekretär Walter Ulbricht – ganz nach dem Vorbild und Willens der Sowjetunion. 1952 wurde der Aufbau des Sozialismus beschlossen.
Neben dem wirtschaftlichen Aufschwung sorgten sportliche Erfolge dafür, daß das deutsche Selbstbewusstsein wieder allmählich an Stärke gewann.
Bei den Olympischen Spielen 1952 in Oslo und Helsinki wurden erstmals seit Beendigung des Zweiten Weltkriegs wieder deutsche Sportler zugelassen. In Oslo errang der Zweierbob die erste olympische Goldmedaille für Deutschland nach dem Krieg.
Im selben Jahr gewann eine bundesdeutsche Mannschaft die Feldhandball-Weltmeisterschaft. Ein unglaublicher Stolz kam auf, als Deutschland 1954 die Fußball-Weltmeisterschaft gewann. Es wurde vom "Wunder von Bern" gesprochen.
Musikalisch wurde In Deutschland Peter Kraus bejubelt und verehrt. Daneben wurde der deutsche Schlager einer der ganz großen Trends. Peter Alexander startete seine Karriere mit "Die süßesten Früchte fressen nur die großen Tiere". Caterina Valente sang "Ganz Paris träumt von der Liebe". Rudi Schuricke schmetterte "Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt" – passend zur aufkeimenden Urlaubsliebe der Deutschen zu Italien. Auch Seemannslieder waren beliebt, z.B. von Freddy Quinn, Lolita oder Lale Andersen.
Das Kino war in den 50er Jahren das aufregende Freizeitvergnügen schlechthin. Hildegard Knef brach mit ihrem Auftritt in "Die Sünderin" einen unglaublichen Skandal vom Zaun. Man lachte über Heinz Rühmann in "Der Hauptsmann von Köpenick". Die Frauen verfielen reihenweise James Dean, der in "Giganten" brillierte.
Mit vielen Stars dieser Zeit (u.a. Frank Sinatra und Burt Lancaster) widmete sich "Verdammt in alle Ewigkeit" dem Thema Zweiter Weltkrieg. Mit "Die Halbstarken" wurde Horst Buchholz zur Ikone einer Generation. Ebenfalls sehr beliebt bei den Kino-Besuchern waren Heimatfilme – mit grünen Wiesen, viel Gefühl und einer großen Portion heiler Welt. Und Romy Schneider war für meine Schwestern plötzlich einfach nur noch "Sissi".
Wenn ich daran denke, dann wird es Zeit und "Ich denke oft an Piroschka".
Auch auf den deutschen Straßen kam allmählich wieder Bewegung. Furchtbar "in" waren Motorroller. Die kamen vor allem direkt aus Italien. Die Firma Piaggio verkaufte z.B. die Vespa und Innocenti brachte die Lambretta auf den Markt. Stolz war, wer einen Kleinstwagen besaß, z.B. eine Zündapp Janus oder ein Goggomobil, beide waren ein viersitziges Rollermobil. Mancheiner träumte sogar von einem Volkswagen.
Dann begann der Kalte Krieg und 1957 stand Westeuropa und die USA unter dem "Sputnikschock": Die Russen schossen Sputnik ins All und niemand hatte damit gerechnet, dass die Russen technologisch bereits so weit waren. Es wurde deutlich, dass die Russen waffentechnisch mit einer Atombombe drohen konnten.
In Kuba tobte die Revolution, Castro kam an die Macht. Stalin starb 1953. Der Korea-Krieg brach 1950 aus, der Indochina-Krieg tobte auch zu dieser Zeit noch. Es begann eine Zeit, die die Welt in "Ost" und "West" aufteilte.
Die Bundeswehr wurde aufmöbliert und in 1965 hätte man auch mich trotz Brille und Plattfüßen eingezogen aber ich setzte mich kurzfristig -
und kurzsichtig und plattfüßig - nach Australien ab. Und der Rest ist Geschichte!
Danke schön, Bärbel, für die Bilder und die Erinnerungen!